Arbeitskreis: Mathematiklehren und -lernen in Ungarn

Gabriella Ambrus und Johann Sjuts

Erneut konnte sich der GDM-Arbeitskreis „Mathematiklehren und -lernen in Ungarn“ nur im Online-Format treffen. An der 6. Herbsttagung am 1. und 2. Oktober 2021 nahmen 22 Personen aus 7 Ländern teil. Im Mittelpunkt stand das Thema „Talentförderung in Mathematik“. Wie stets auf den Arbeitskreistagungen gab es neben den angemeldeten Vorträgen auch die Möglichkeit, andere relevante Themen zu besprechen oder sich in kurzen Gesprächen auszutauschen (nur nicht in gewohnter Weise bei einem guten starken ungarischen Kaffee).

  1. Eröffnung (Péter Simon und Ödön Vancsó, Budapest) und Einführung (Gabriella Ambrus, Budapest)

Professor Péter Simon, der Direktor des Instituts für Mathematik an der Eötvös Loránd Universität Budapest, und Ödön Vancsó, der Leiter des Mathematikdidaktischen Zentrums, begrüßten die Online-Beteiligten in der Ferne. Eine Einführung in die Tagung gab Gabriella Ambrus als Sprecherin des Arbeitskreises. Die eingeblendeten Fotos von der durch die ungarische Hauptstadt fließenden Donau ließen zumindest das Gefühl aufkommen, als sei man – wie sonst üblich – in Budapest.

  1. Bericht über das neue Projekt „Geleitet-entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht“ (Ödön Vancsó, Budapest)

Innovationen durch Reformprojekte gehören zur ungarischen Tradition in der Schulmathematik. So entsteht nun auf der Basis vorheriger Projekte das neue Projekt „Geleitet-entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht“ (engl. „Guided Discovery Learning in Mathematics Education“). Es ist angesiedelt an der Eötvös Loránd Universität (ung. ELTE = Eötvös Loránd Tudományegyetem) (dort geleitet von Ödön Vancsó) und am Alfréd Rényi Institut für Mathematik an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (ung. MTA = Magyar Tudományos Akadémia) (dort geleitet von Péter Juhász). Das Alfréd Rényi Institut für Mathematik ist das Zentrum der mathematischen Forschung in Ungarn.

Das Projekt hat vielfache Anknüpfungspunkte: Zu nennen sind die Methode des Forschenden Lernens im Mathematikunterricht (Inquiry Based Mathematics Education), die Lajos Pósa Methode (Didactic Engineering) mit Wochenendcamps zur Talentförderung, der auf Hans Freudenthal zurückgehende Ansatz des Realistischen Mathematikunterrichts (Realistic Mathematics Education), die Theorie der didaktischen Situationen von Guy Brousseau und das Konzept des problemlösenden Mathematikunterrichts nach George Pólya und Alan H. Schoenfeld.

Im Zentrum auch dieses Projekts stehen mathematikdidaktische Forschungen, darunter Fragen zur Lehrplangestaltung und zur Qualifizierung von Mathematiklehrkräften. Das Vorhaben soll sowohl zu schulischen Entwicklungen in Mathematik als auch zu wissenschaftlichen Untersuchungen in der Mathematikdidaktik führen.

Zum Projekt gehört ein ungarisches Team, das sich in einer Arbeitsgruppen-Struktur bestimmten mathematikdidaktischen Fragen widmet (z B. den methodischen Ansätzen des Mathematiklernens, den Sachgebieten Diskrete Mathematik, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, dem Einsatz digitaler Medien und Werkzeuge im Mathematikunterricht, der Geschichte der Mathematikdidaktik, der Analyse und Implementierung der Pósa-Methode). Mitwirkende an der Forschung kommen aus Österreich, Deutschland, Schweden, Finnland, Spanien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden.

Geplant ist zudem, die Institutionen der ungarischen Minderheiten in Rumänien, in der Slowakei, in der Ukraine, in Kroatien, in Serbien und in Slowenien einzubeziehen.

Die Ergebnisse des Projekts sollen auf internationalen Tagungen – beispielsweise auf dem von der Eötvös Loránd Universität Budapest organisierten Congress of the European Society for Research in Mathematics Education (CERME) vom 31. Januar bis zum 4. Februar 2023 – präsentiert und in verschiedenen Zeitschriften und Büchern (Springer) publiziert werden.

  1. „Algorithmisches Denken in der Talentförderung“ (Karl Josef Fuchs, Salzburg, und Ján Gunčaga, Bratislava)

Abstract: Im ersten Teil des Beitrags wird die Bedeutung des Algorithmischen Denkens unter Beiziehung aktueller fachdidaktischer Publikationen als Fundamentale Idee diskutiert. Den Hauptteil des Beitrags bilden ausgewählte Beispiele im Kontext von Wettbewerben und Pluskursen, die als prototypisch für Algorithmisches Denken analysiert und präsentiert werden.

Die Beispiele aus einem aussetzenden fächerübergeifenden Unterricht sind den internationalen Wettbewerben Känguru der Mathematik, Biber der Informatik, Internationale Olympiade für Informatik (IOI) sowie dem Pluskurs Dynamische Systeme im Bereich der Bildungsdirektion für Salzburg entnommen. Den Abschluss des Beitrags bilden eine kurze Zusammenfassung und Bewertung des Aufgabenblocks.

  1. „Developing abstract thinking in talent management“ (Katalin Fried, Budapest)

Abstract: Talent management is a multi-component process that includes (among others) talent recognition, talent development, talent management, and even providing independence. Each of these requires both time and energy. We know, however, that the lack of talent can be compensated with diligence in long term. Therefore, we cannot afford to devote our energies to the talented taking only 1 or 2% of population, while releasing the hands of others.

Another type of talent management is developing children who do not show a sign of talent (or not right away from the beginning) but are persistent and happy to work. We can also succeed with them. But how do you make a talent out of someone? (See the Polgár sisters.)

One of the key steps in mathematics talent management is to develop abstraction skills. We show an example, how the need for abstraction can be developped.

  1. „Talentförderung in Mathematik: Wettbewerbe und mehr – was eine Schule organisieren kann“ (Johann Sjuts, Osnabrück)

Abstract: Talentierte und interessierte Kinder und Jugendliche über den Unterricht hinaus in Mathematik zu fördern, ist eine wesentliche Aufgabe von Schule. Dabei gehören Breiten- und Spitzenförderung zusammen. Der Beitrag gibt einen Einblick in die vielfältigen Möglichkeiten, die eine Schule anbieten kann: Wettbewerbe, Arbeitsgemeinschaften, Schnupperstudien und Aktionen in der Öffentlichkeit. So sind Erfolge von bemerkenswerter Reichweite und Nachhaltigkeit erreichbar

  1. „Die Einführung realistischer Aufgaben in den Mathematikunterricht im Themenkreis der Trigonometrie“ (Emese Kása, Debrecen)

Abstract: Die Hauptfrage der Untersuchung war, wie die Einführung realistischer Mathematikaufgaben im Themenkreis der Trigonometrie auf die Leistung der Schüler wirkt, ob diese motivierter werden oder ihre Ergebnisse besser werden. Außerdem galt es zu erfahren, wie der Online-Unterricht die Motivation der Schüler beeinflusst hat, ob es sich lohnt, diese Art der Aufgaben während des Online-Unterrichts zu üben.

In der Forschung wurde mit einer Gruppe von 14 Schülern gearbeitet, die die elfte Klasse besuchten. Die meisten Schüler aus der Gruppe gaben an, nicht Mathematik studieren zu wollen. Die realistischen Aufgaben wurden in den Stunden zu den Sinus- und Kosinussätzen eingeführt. Die Schüler haben in dieser Zeit online gelernt. Die Gruppe hat einen Vortest zu Inhalten aus der Trigonometrie, die sie in ihrem letzten Schuljahr gelernt hatten, geschrieben. Sie haben diese auch während des Online-Unterrichts gelernt. Dann haben sie mehrere Tests geschrieben, die ausgewertet wurden. Am Ende des Themenkreises haben sie auch einen Nachtest geschrieben, dessen Ergebnisse mit den Ergebnissen des Vortests verglichen wurden. Außerdem wurden die Leistungen von vier Schülern analysiert, die während der Forschung fleißig gearbeitet haben. Die Schüler haben auch einen Fragebogen ausgefüllt. So wurde die Meinung der Schüler erhoben, wie ihnen die realistischen Aufgaben gefallen haben und was sie über den Online-Unterricht denken.

Der Vortrag stellt die Ergebnisse der Aufgaben und des Fragebogens dar: Trotz des Online-Unterrichts hat sich die Leistung der Schüler verbessert, wenn sie realistische Aufgaben geübt haben. Und sie haben in dem Fragebogen diesen Aufgabentyp positiv bewertet.

  1. „Lösungen von Lernenden mit starken und mittleren Leistungen in Mathematik – bei einer geometrischen Beweisaufgabe“ (Gabriella Ambrus, Budapest)

Abstract: Seit einiger Zeit spielen im ungarischen Mathematikunterricht geometrische Beweisaufgaben eine kleinere Rolle als zuvor, obwohl diese Aufgaben besonders geeignet sind für die Entwicklung des mathematischen Denkens und des mathematischen Problemlösens. Voneinander zu unterscheiden sind experimentelle Vorgehensweisen (die keine Beweise sind) und intuitiv entstandene und formal notierte Vorgehensweisen (die als Beweise gelten).

Die Lernenden können während eines mehrjährigen Prozesses eine Stufe erlangen, auf der sie deduktive Beweise nicht nur verstehen, sondern sogar selbst erstellen können. Bei diesen Beweisen sind die verwendeten Behauptungen eindeutig gegeben bzw. sie folgen aus den Bedingungen oder können aus früher gemachten Beweisen zitiert werden.

Anhand einer konkreten Aufgabe wird untersucht, inwieweit Gymnasiasten – mit verschiedenen mathematischen Leistungen – für eine einfache geometrische Beweisaufgabe korrekte Lösung anfertigen können, nachdem sie sich mit einer „falschen“ Lösung der Aufgabe beschäftigt haben.

  1. Bericht und Aussprache über die Aktivitäten des Arbeitskreises „Mathematiklehren und ‑lernen in Ungarn“ (Gabriella Ambrus, Budapest)

▪ Mathematik hat in Ungarn traditionell eine hohe kulturelle und wissenschaftliche Bedeutung. Mit seinen Aktivitäten in Mathematikdidaktik möchte der Arbeitskreis in sichtbarer Weise dazu beitragen, den Rang der Mathematik in Schulen und Hochschulen aufrechtzuerhalten. Dem dienen die vielfältigen Vorhaben, Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Es gilt, möglichst viele namhafte Personen aus verschiedenen Ländern für die internationale Zusammenarbeit in Mathematikdidaktik und damit für länderübergreifende Impulse zu gewinnen.

▪ Ob und wann es zu einer gemeinsamen Tagung der Arbeitskreise „Mathematiklehren und ‑lernen in Ungarn“ und „Problemlösen“ kommt, ist offen.

▪ Für das Sprecherteam werden Gabriella Ambrus und Johann Sjuts wiedergewählt.

  1. Bericht zur Buchreihe „Mathematiklehren und -lernen in Ungarn“ (Johann Sjuts, Osnabrück)

Erschienen sind bisher drei Bände: Band 1 „Auch wenn A falsch ist, kann B wahr sein. Was wir aus Fehlern lernen können. Ervin Deák zu Ehren“ (Hrsg. Éva Vásárhelyi, Johann Sjuts, 2019), Band 2 „Komplexer Mathematikunterricht. Die Ideen von Tamás Varga in aktueller Sicht“ (Hrsg. Gabriella Ambrus, Johann Sjuts, Ödön Vancsó, Éva Vásárhelyi, 2020) und Band 3 „Theoretische und empirische Analysen zum geometrischen Denken“ (Hrsg. Éva Vásárhelyi, Johann Sjuts, 2021).

Demnächst soll der Band 4 „Mathematische Zeitschriften und Wettbewerbe für Kinder und Jugendliche“ (Hrsg. Gabriella Ambrus, Johann Sjuts, Éva Vásárhelyi, 2022) erscheinen. Er widmet sich mehreren mathematischen Schülerzeitschriften, verschiedenen nationalen und internationalen Mathematikwettbewerben sowie weiteren Maßnahmen zur Talentförderung.

Die vorläufigen Arbeitstitel der nächsten Bände lauten: Band 5 „Mathematik und mathematisches Denken“ und Band 6 „Aktuelle Ergebnisse aus der mathematikdidaktischen Forschung“.

Für weitere Informationen stehen Éva Vásárhelyi (E-Mail: vasareva@gmail.com) und Johann Sjuts (E-Mail: sjuts-leer@t-online.de) zur Verfügung.

  1. Sonstiges

Da die nächste GDM-Jahrestagung erst für die Zeit vom 29. August bis zum 2. September 2022 vorgesehen ist und sich der Arbeitskreis dann turnusmäßig trifft, soll die nächste Zusammenkunft des Arbeitskreises – nach jetzigem Planungsstand – als Frühjahrstreffen Ende April 2022 in Budapest (im Hybrid-Format) stattfinden.

 

Gabriella Ambrus, Eötvös Loránd Universität Budapest

E-Mail: ambrus.gabriella@ttk.elte.hu

Johann Sjuts, Universität Osnabrück

E-Mail: sjuts-leer@t-online.de

 

 

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